GOLDENE STADT, VERSCHLUNGENE PFADE

Ausstellung "Goldene Stadt – Verschlungene Pfade"; 18-20. Mai 2018, Gängeviertel Hamburg, kuratiert von Filomeno Fusco

ZU DEN SERIEN

FLUCHTPERSPEKTIVE

Die Fluchtperspektive ist Ausdruck einer großen Unzufriedenheit. Seit der Mensch gestaltend in die Natur eingreift, plagt ihn eine quälende Unzufriedenheit mit dem Zufälligen und jeder spontanen Entwicklung. Deswegen bändigen alle Baumeister der freien Sicht ihre Angst vor dem Chaos mit extremer Klarheit. Oder sie inszenieren das Axiale in dem Wunsch, vollkommener zu scheinen, als sie sind. Die schnurgeraden Boulevards von Paris etwa dienten der Bekämpfung des unkontrollierbaren Lebens in den verwinkelten Gassen der alten Stadt, wo Erregungen und Träume zu Wildheit neigten. Der gezirkelte barocke Schlosspark dagegen bildete den Wunsch des Herrschers ab, die ferne Zukunft mit einem Blick zu erfassen.

Dieses Versprechen der Fluchtperspektive wurde durch alle gesellschaftlichen Systeme hindurch gesucht. Griechen und Römer waren ebenso besessen von den Linien, die sich erst in der Unendlichkeit treffen, wie Hitler und sein Architekt Albert Speer. Aber auch die Planer der Moderne bekämpfen das Bedrohliche, das eine dichte, verschlungene Stadt der Unabwägbarkeiten für sie bedeutet, mit dem Zepter des Lineals.

Doch die Fluchtperspektive ist nicht beständig. Von ihren Seiten wuchert das Leben immer wieder unaufhaltsam hinein in das klare Bild der Vollkommenheit. Der Trieb ist unstillbar, das Gerade zu krümmen, zu verwischen, wieder tätig und vielfältig erscheinen zu lassen. Da zeigt das undisziplinierbare Leben seine Unzufriedenheit mit der verordneten Geradlinigkeit. Jeder Alltag beendet die Flucht ins Ideale mit den Spuren des Individuellen. Erst dadurch wird der perspektivische Entwurf wieder schön, organisch und menschlich.

DAS KARUSSEl

Es gibt eigentlich nur zwei Orte, an denen die Stadt an die Kinder denkt. Der Spielplatz und das Karussel. Wobei die drehenden Pferdchen, Feuerwehrwagen und Mini-Ferraris vielleicht doch mehr eine Sentimentalität für Erwachsene sind, die sich wie ein Kind fühlen wollen, während sie das eigene beobachten. Ein merkwürdiges Zeitloch geht hier auf, vor diesem klingelnden und rumpelnden Riesenspielzeug, das so überhaupt nicht mehr konkurrieren kann mit den Tempobelustigungen heutiger Kinderspiele.

Das Karussel ist also ein Nostalgie-Reservat, eine lieblich kreiselnde Behauptung, dass früher eigentlich alles viel schöner, gemütlicher, sinnlicher war. Ob das stimmt?

Besonders verwunschen sehen Karussels nachts aus, eingepackt, stumm, ihrer inneren Verzierung beraubt. Dann ist die Versprechung einer Traumreise in die kindliche Vorstellungskraft noch im Stadium des unausgepackten Geschenks. Und dann verstrahlt das Drehobjekt etwas besonders Rührendes in der blankgeputzten Nüchternheit der modernen Innenstädte, wo nichts weniger erwünscht ist als Menschen, die aus der Rolle fallen. Roll on, Karussel, und steigen Sie auf, Groß und Klein.

KUPPELN & DECKEN

Was für eine Verschwendung. Das Phantastische schwebt unterm Himmel. Decken und Kuppeln, denen jeder arbeitssteife Nacken nur die kürzeste Aufmerksamkeit im Urlaub widmet, sind Märchenlandschaften und Hohlräume für Erhabenheit. Hier passiert das Unkonventionelle, das sich die Freiheit der geringen Beachtung nimmt, um Engel, Blasen, Schnörkel und Muster zu feiern. Da oben, über unseren Köpfen, lebt eine ganz eigene Zoologie der Formen und Vorstellungen. Überschwenglich, ja machmal protzig und unbescheiden, aber auch frech, massiv lichtdurchströmt.

Aber Decken der Opulenz und des genialen Handwerks sind nur die Ausnahmen mit Sendungscharakter. Als Schönste ihrer Art können sie ganz grundsätzlich an das Vergessen erinnern, mit dem wir alles Über-uns bestrafen. Wie ihr Zwilling, der Boden, ist die Decke ein reichhaltiger Ort der Spuren und Botschaften, kann mit ästhetischen Augen betrachtet und in einen überraschenden Ausschnitt gebracht werden. Dann entwickeln auch banale Decken eine Bildkraft, die als abstrakte Kunst ihren Weg an die Museumswand finden würde, hätte ein Künstler sie signiert. Und das Unten des Obens wechselt in Licht und Wetter seine Erscheinung, wahrt seine Zurückhaltung mit einer gewissen Noblesse des wandelbaren Charakters. Decken wären ein Ort der Meditation, der ein Ort der Inspiration werden könnte. Wenn wir uns die Mühe machen würden, den Kopf zu heben und sie überhaupt anzusehen.

 

DER FUSSBODEN (AUSSEN)

Immer, wenn ich mein Handy anstelle und die Foto-App noch offen ist, knipse ich ein Bild. Ohne Korrektur der Haltung, ohne Achtung für den optischen Wert dessen, was da zu meinen Füßen zu sehen ist (die häufig mit drauf sind). Auf diesen Aufnahmen sind Straßenbeläge zu sehen und Tischdecken, Zugsitze und Bierdeckel, meine müden Beine auf Hotelbetten oder Schatten, verschwommene Details von Objekten oder Menschen südlich des Bauchnabels, die Einkaufstüten tragen, die wohin hetzen oder vor etwas stehen, das man nicht sieht.

Ich sortiere diese Schnappschüsse des Achtlosen. Die hier zu sehende Serie „Boden Außen“ widmet sich dem Grund unserer Fortbewegung, den Belägen unserer Wege, von denen wir keinerelei Notiz nehmen. Es sind Oberflächen aus vielen Städten, die man identifizieren könnte, denn tatsächlich sehen die Straßen in Berlin sehr anders aus als in London, in Shanghai als in Saarbrücken. Aber allen Böden gemeinsam ist, dass sie nicht nur Funktion sind, sondern auch Bild, und als solches sind sie ein fortlaufender Teil unserer unterbewussten Weltwahrnehmung. Ihre Omnipräsenz macht irgendetwas mit unserem Denken und Empfinden in der Stadt. Der Boden hat eine Sprache und viele Geschichten. Vielleicht kann man etwas Sinnvolles und Schönes davon lernen.

EISATTRAPPEN

Sie sind Skulpturen der Lust. Lust auf Süßes, Zeichen für Sommer und Wärme, dabei erotisch aufgeladen als phallische Objekte, die ganz harmlos tun. Eisattrappen stehen in jeder deutschen Fußgängerzone, aber auch in den meisten europäischen Ländern vor der Waffelausgabe. Es ist ihre Pflicht, einen unterbewussten Reflex zu zünden, aber selbst nicht weiter betrachtet zu werden. Nur einige dienen nach dem Genuss noch als Abfalleimer. Die Variation der Modelle ist gering, einige Standardversionen tauchen regelmäßig auf, aber es existieren auch Sondermodelle mit Eisbären, Marihuana-Blättern auf dem Hörnchen oder einem irren Kind, das in der Sahnehaube sitzt.

Für sich betrachtet und eingebettet in ihre Umgebung bekommen die Eisattrappen aber oft etwas Trauriges und Trostloses. Ihr einziger Zweck ist der Appell an unsere Konsumreize, sie provozieren gerade in ärmeren Gegenden verzweifelte Konflikte zwischen schreinden Kindern und haushaltsknappen Müttern, und die Umwelt, in der diese Verführungszeichen platziert sind, steht häufig im krassen Gegensatz zu dem Lockruf an die Sinnlichkeit dieser Plastikriesen. Deswegen sind diese hohlen Gesellen für sich betrachtet eben auch ein Symbol für die Verlogenheit von Werbung und für die Leichtigkeit, mit der wie Passanten uns fernsteuern lassen. Aber bitte mit Sahne!

 

SANITÄR

Im Gegensatz zum Essen und Trinken ist das Ausscheiden der Stoffwechselreste immer noch ein peinlicher Vorgang. Er muss gegen die Blicke Anderer geschützt werden, findet hinter verschlossenen Türen statt, ist als Gesprächsthema gemieden, und verbindet doch alle Menschen auf diesem Planeten mit einer Einschließlichkeit, die keine Religion, keine Kultur oder die Formulierung der Menschenrechte erreicht. Obwohl sich eine große Industrie mit der Produktion von Sanitäranlagen befasst, dürfte es den meisten Menschen trotzdem schwer fallen, direkt nach dem Verlassen einer öffentlich zugänglichen Toilette zu beschreiben, wie diese eigentlich gestaltet war (es sei denn, sie befindet sich in einem Luxus-Resort, aber selbst dann...).

Es ist diese Verbindung des Profansten mit dem Absurden, diese widersprüchliche Verbindung von isolierendem Schamgefühl und maximal verbindender Menschheitserfahrung, die mich dazu brachte, seit 2004 auf allen meinen Reisen Toiletten und Urinale ungeschönt zu fotografieren. Die Aufnahmen gehen mittlerweile in die Tausende und dokumentieren die Orte der Erleichterung von China bis Mexiko, von Holocaust-Gedenkstätten bis zu Pizza-Restaurants, von den Luxusaborten bei Harrod’s in London zu vollgekritzelten Klos auf St. Pauli. Aber es sind nicht die nationalen und kulturellen Unterschiede, die sich in dieser Langzeiterzählung primär abbilden, sondern etwas selten Unvierselles. Der Unort wird zum Ort, an dem ganz leise die Frage hereinrauscht, ob die enorme Bedeutung, die wir Unterschieden zwischen Menschen zumessen, vielleicht nicht das eigentlich Peinliche ist?

A.C.A.B.

Es ist vermutlich das zweitälteste Graffiti, das seit seiner Erfindung ununterbrochen bis heute verwendet wird. Nach dem erigierten Glied, das es bereits in Steinzeithöhlen zu sehen gab und das spätestens seit den Römern als Verewigung an Toilettenwänden gebräuchlich ist, hat A.C.A.B. die längste kontinuierliche Geschichte als Volksäußerung mit dem Stift. Erstmals nachweisbar vor circa 100 Jahren in britischen Knästen, könnte es viel älter sein. Aber das Überraschende an der unsterblichen Botschaft „All Cops Are Bastards“ ist, dass sie verfeindete Gruppen eint. Links- und Rechtsradikale verbreiten es ebenso wie Hooligans, Kriminelle und Punks. Das gemeinsame Feindbild der Polizei (die Cops) äußert sich in vier Buchstaben, die aber eher nach Weltverschwörung aussehen, denn nach einer klaren Botschaft. Denn A.C.A.B. steht zwar in so ziemlich jeder Stadt auf der Welt irgendwo an der Wand, aber die meisten Menschen haben keinen Schimmer, was es eigentlich bedeutet. Falls es ihnen überhaupt auffällt.

Denn da zumindest die Polizeikräfte des Globus seine Bedeutung kennen, findet man sehr wenige Akronyme mit diesem Inhalt, für die sich der Künstler besonders viel Zeit gelassen hätte. Schnell hingeschrieben und dann weg, ist die Regel. Doch wenn man einmal darauf geeicht ist, schon im Augenwinkel die Buchstabenfolge zu erkennen, dann lenkt sie einen zu einer ganz speziellen Wahrnehmung der Stadt und einer Bildergalerie des Widerständigen, die sehr vielfältig auftritt. A.C.A.B. verbindet sich mit anderen Graffitis zu Wandgemälden, lenkt die Aufmerksamkeit auf Alltagsarchitektur und das Stadtmobiliar, ziert Brücken, Denkmäler und Polizeistationen. Und jede Zugfahrt innerhalb Deutschlands wird ständig begleitet von der Behauptung, die auf zahlreichen Bahngebäuden steht, dass Polizisten uneheliche Kinder sind, oder einfach nicht nett. So wird A.C.A.B. zu einem Reiseführer des Anderssehens, der einen ständig auf Stellen hinweist, für die man sonst kein Auge hat.

 

PFERD & REITER

Es ist schwer vorstellbar, dass für Angela Merkel in Berlin jemals ein Reiterstandbild aufgestellt wird. Das alleine zeigt, wie skurril die Kavallerie der Machthaber heute eigentlich wirkt, wo das Fortbewegen auf Pferden vor allem von jungen Mädchen im Grünen gepflegt wird. Reiterstandbilder sind Anachronismen der reinsten Kultur, die mit ihren pompösen Gesten, ihren Rüstungen und Kostümen so zeitgenössisch erscheinen wie ein Tjost. Tatsächlich wurden die letzten repräsentativen Reiterstandbilder im 20. Jahrhundert errichtet für Atatürk, Stalins Marschall Schukow und Meir Dizengoff, den ersten Bürgermeister von Tel Aviv. Und schon das wirkte damals fehlplatziert.

Doch umso mehr die Städte sich heute angleichen in der globalen Flachsprache der Moderne, je weiter die Gentrifizierung und die Epidemie der Kettenläden um sich greift, umso mehr nehmen diese Reiterstandbilder eine magische Verantwortung für das Anderssein an. Nicht nur, dass sie trotz der reduzierten Ikonografie auf wenige Elemente und wiederholbare Bewegungsposen stets individuell und wiedererkennbar bleiben. Reiterstandbilder sind auf eine kaum erklärliche Weise Anziehungspunkte für Menschen, die sich hier treffen, sich küssen oder ausruhen. Obdachlose suchen die Nähe der Figuren und die Touristen fotografieren sie. Hier beginnen Demonstrationen, und Märkte umkränzen die Luftreiter. Obwohl sie nichts mehr mit der Gegenwart gemein haben, weigern sich diese Geister der Vergangenheit mit großem Erfolg, unzeitgemäß zu sein. Sie sind Street Art der robusten Sorte und Träger eines Rätsels. Und ohne Rätsel in der Stadt gibt es auch keine Magie mehr. Deswegen sind Pferd & Reiter Teil eines großen Ordens des bedrohten Zaubers, die man ehren sollte wie die alten Hausgötter.

 

HUNDEPERSPEKTIVE

Was auf der Höhe unserer Füße zu sehen ist, weiß nur der Hund. Seine verschlungenen Pfade geben uns die Chance, eine neue Welt zu entdecken. In diesem Film lieber geruchsfrei. Man soll es ja nicht übertreiben mit der Expedition zu den Fundamenten der Goldenen Stadt.